Bericht • 31.08.2015

Verluste durch Out of Stocks in Deutschland

Warum sich die 1-Milliarde-Euro-Legende hartnäckig hält

Prof. Dr. Hendrik Schröder ist Inhaber des Lehrstuhls für Marketing und...
Prof. Dr. Hendrik Schröder ist Inhaber des Lehrstuhls für Marketing und Handel an der Universität Duisburg-Essen.
Quelle: privat/Schröder
Es gehört zu den Kernaufgaben im Handel, sowohl Überbestände als auch Fehlmengen in den Regalen auf ein wirtschaftlich vertretbares Maß zu reduzieren.

So lassen sich Kapitalbindungs- und Lagerhaltungskosten sowie Opportunitätskosten reduzieren. Uns geht es hier nicht um die Ursachen und Konsequenzen von Fehlmengen. Uns geht es um die Frage, wie fehlerhafte Aussagen zu Wirkungen von Out-of-Stock-Situationen entstanden sind.

2006 hieß es beim ECR-Tag: „Vertreter von Industrie und Handel schätzen die Umsatzverluste durch Out-of-Stocks (OoS) in Deutschland auf jährlich 1 Mrd. Euro.“ Auch 2015 kann man lesen: „1 Mrd. € Verlust für FMCG und Einzelhandel jedes Jahr […] hervorgerufen durch hohe Out of Stock Raten.“ Und in Einladungen zu dem Seminar „Optimal Shelf Availability – mit Know How Regallücken vermeiden“ steht: „Nach einer von GS1 Germany durchgeführten Studie zum Kundenverhalten verlassen über 14 Prozent der Konsumenten das Geschäft, wenn sie ihr gewünschtes Produkt nicht finden können.“ Woher stammen diese Zahlen? Sind sie methodisch haltbar? Unsere Antwort muss lauten: So wie diese Zahlen ermittelt worden sind, sollte man sie besser nicht weiter verwenden.

Gehen wir der ersten Frage nach, wie sich Kunden in Out-of-Stock-Situationen verhalten. Grundlage ist eine Untersuchung aus dem Jahr 2006. Gegenstand waren Produkte aus sieben Warengruppen. 748 Kunden wurden in 15 SB-Warenhäusern u. a. gefragt „Sie haben jetzt gerade … gekauft. Was hätten Sie getan, wenn das von Ihnen gewünschte Produkt nicht vorrätig gewesen wäre?“ Welche Reaktionen vorgegeben wurden und wie sich die Antworten bei den einzelnen Produkten verteilen, zeigt Abbildung 1.

Abbildung 1: Kundenreaktionen auf Out-of-Stock-Situationen....
Abbildung 1: Kundenreaktionen auf Out-of-Stock-Situationen.
Quelle: Bormann & Gordon 2006, S. 35
Wenn man zu jeder Kundenreaktion den gewichteten Durchschnitt der Einzelwerte für die sieben Warengruppen ermittelt, ergeben sich die Werte, wie sie GS1 Germany für Deutschland kommuniziert (Abbildung 2). So entstand auch die Aussage, dass „über 14 Prozent der Konsumenten das Geschäft [verlassen], wenn sie ihr gewünschtes Produkt nicht finden können.“

Wir weisen an dieser Stelle auf zwei Probleme hin. Erstens, statt einer realen wurde eine hypothetische Out-of-Stock-Situation verwendet. Und die Befragung fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Kunden das Produkt bereits gekauft hatten, es also vorhanden war. Es spricht sehr viel dagegen, dass die Antworten annähernd das tatsächliche Verhalten im Fall von Fehlmengen abbilden. Die Messung ist insoweit nicht valide.

Zweitens, bei manchen Produkten verbietet es sich, die Antwort „Ich hätte dann wahrscheinlich gar kein … gekauft“ als Totalausfall des Umsatzes zu interpretieren. Denn das hieße weniger Haare waschen, weniger Wäsche waschen und weniger Geschirr reinigen. Bestimmte Produkte kann man nicht nicht kaufen.

Abbildung 2: Kundenverhalten bei Fehlmengen.
Abbildung 2: Kundenverhalten bei Fehlmengen.
Quelle: von Brachel/Zillgitt 2006, S. 4
Kommen wir zur zweiten Frage: Woher stammt der Betrag in Höhe von 1 Mrd. Euro, der durch Out of Stocks an Umsatz verloren gehen soll? Die Antwort findet sich in einer Rechnung mit Daten für 704 SB-Warenhäuser aus dem Jahr 2004 (Abbildung 3).

Es ist offenbar wie folgt gerechnet worden. Auf den tatsächlichen Umsatz von 16.180.000.000 Euro Umsatz ist ein fiktiver Umsatz von 1.406.956.522 Euro „aufgesattelt“ worden. Denn 8% von 17.586.956.522 € entspricht 1.406.956.522 € oder anders herum: 16.180.000.000 € : (1 – 0,08) = 17.586.956.522 €. Inhaltlich berechtigt ist dies nicht.

Um die Umsatzeffekte zu berechnen, die durch Out-of-Stock-Situationen entstehen, gehen hier die Kundenreaktionen ein, die auf europäischer (!) Ebene ermittelt worden sind (Abbildung 2). Addiert man dann die Werte für den Handel und die Industrie, so erhält man 1.069.286.957 €, also rund 1 Mrd. Euro (sic!).

Abbildung 3: Umsatzeffekte durch Out-of-Stock-Situationen....
Abbildung 3: Umsatzeffekte durch Out-of-Stock-Situationen.
Quelle: Rackebrandt 2005, S. 6
Nennen wir an dieser Stelle drei Probleme. Erstens, die Out-of-Stock-Rate von 8% unterstellt fälschlicherweise, dass sie das ganze Jahr über an jedem Verkaufstag gilt und nachfragewirksam ist. Dies bedeutete, dass fehlende Ware nicht nachgeräumt würde. Zweitens, die Umsatzeffekte der Industrie werden auf der Basis von Endverbraucherpreisen ausgewiesen. Richtigerweise müssten Herstellerabgabepreise angesetzt werden. Drittens, die durch den endgültigen Nicht-Kauf verlorenen Umsätze werden fälschlicherweise doppelt angesetzt.

Nur wenn man die aufgezeigten Probleme ignoriert, gelangt man zu einem Umsatz„ausfall“ von 1,069 Mrd. €. Dieser Ausfall ist aber nur zu einem kleinen Teil ein Totalausfall, im Übrigen handelt es sich um Umsatzverschiebungen zwischen Händlern und zwischen Herstellern.

Wir können festhalten: So wie die Erhebungen durchgeführt und die Berechnungen angestellt worden sind, lässt sich die Aussage, dass durch Fehlmengen jährlich Umsatzverluste in der deutschen Lebensmittelbranche von 1 Mrd. Euro entstehen, nicht halten. Um noch einmal einem Missverständnis vorzubeugen. Uns geht es allein um die untersuchten Erhebungen und Berechnungen. Wie hoch nun die Umsatzverluste und Umsatzverschiebungen zwischen Marken einerseits und Geschäften andererseits tatsächlich sind, wissen wir nicht.

Bleibt noch die Frage, warum sich diese Out-of-Stock-Legende so hartnäckig hält. Zum einen ist es eine Botschaft, die eine hohe Aufmerksamkeit auslösen dürfte. Grundsätzlich dürften viele Händler und Hersteller daran interessiert sein, Fehlmengen zu reduzieren. Diesen Aspekt greifen Dienstleister gern auf, um Lösungen für das Problem anzubieten. Das Problem ist in der Tat da, es dürfte aber tatsächlich kleiner sein, als es propagiert wird.

Autor: Prof. Dr. Hendrik Schröder, Universität Duisburg-Essen

 


Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von Prof. Dr. Hendrik Schröder anlässlich der POPAI Inspirational Series am 13. August 2015 in Düsseldorf. Die ausführliche Darstellung des Themas, einschließlich der zitierten Quellen, findet sich auch unter www.marketing.wiwi.uni-due.de.

Zum Autor: Prof. Dr. Hendrik Schröder ist Inhaber des Lehrstuhls für Marketing und Handel an der Universität Duisburg-Essen und Leiter des Forschungszentrums für Category Management in Essen. Seine Arbeitsgebiete sind Käuferverhalten, Handelsmanagement und Handelscontrolling, Kooperation von Industrie und Handel, Customer Relationship Management sowie Multichannel-Retailing.

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